Vorarlberg ist ein Bundesland im Westen Österreichs, das vor allem als Urlaubsziel zwischen Bodensee und Gebirge bekannt ist. Es hat eine Bevölkerung von 400.000 Einwohner*innen.
Im Jahr 1999 gründete das Land Vorarlberg das Büro für Zukunftsfragen, mit dem Ziel, die Zusammenarbeit zwischen der Landesregierung und der Bevölkerung zu verbessern. Das Team dieses neuen Büros stellte fest, dass die Bevölkerung viel aktiver war, wenn sie an der Erarbeitung von Lösungen beteiligt war. Und ihre Initiative ebnete den Weg zur heutigen Kultur der Bürger*innenbeteiligung in Vorarlberg. Organisiert und koordiniert werden die Bürgerräte heute von der "Fachstelle für freiwilliges Engagement und Partizipation", Amt der Vorarlberger Landesregierung. Seit 2006 gab es bereits 13 landesweite und über 60 regionale und kommunale Bürgerräte, zu verschiedenen gesellschaftlichen Themen: Klima, Jugend, Landwirtschaft, Flüchtlinge und auch Bildung. Dieses Bekenntnis zur Bürger*innenbeteiligung wurde 2013 in die Landesverfassung aufgenommen.
Bürger*innenbeiräte können direkt von der Regierung oder dem Parlament ins Leben gerufen werden. Auch die Bevölkerung kann einen Bürger*innenrat initiieren, indem sie 1.000 Unterschriften von Vorarlberger*innen ab 16 Jahren sammelt, unabhängig von ihrer Staatsbürgerschaft. Die Teilnehmer*innen des Bürger*innenrats werden nach dem Zufallsprinzip aus dem Melderegister ausgewählt, und zwar nach den Kriterien Alter, Geschlecht und Wohnsitz. Das bedeutet, dass alle, die in Vorarlberg leben und älter als 16 Jahre sind, unabhängig von der eigenen Staatsbürgerschaft teilnehmen können.
Wie funktioniert es?
Der Bürger*innenrat ist ein vierstufiger Prozess:
15 bis 20 Teilnehmer*innen beraten in einer 1,5-tägigen Sitzung über eine konkrete Fragyestellung und erarbeiten gemeinsam Empfehlungen für den Landtag, wobei unabhängige Moderatoren*innen den Prozess begleiten.
Die Ergebnisse werden öffentlich vorgestellt und im Rahmen eines Bürger*innencafés diskutiert.
Vertreter*innen aus Politik und Verwaltung prüfen eine mögliche Umsetzung der Empfehlungen. Sie ergänzen die Vorschläge und erstellen einen Bericht.
Die Dokumentation wird an die Landesregierung und den Landtag sowie an die Kommunen geschickt, die ihrerseits über die getroffenen Maßnahmen informieren.
- Flipchart-Papier
- Stifte
- Gerät zur Vorführung eines Videos
Hauptziel:
- Die Teilnehmer*innen lernen, was es bedeutet, sich in der Zivilgesellschaft zu engagieren.
Ausführliche Ziele:
- Die Teilnehmer*innen diskutieren die Chancen und Herausforderungen des zivilgesellschaftlichen Engagements
- Die Teilnehmer*innen lernen die demokratische Innovation eines Bürger*innenrates kennen.
- Die Teilnehmer*innen lernen, wie man eine Petitionskampagne plant und durchführt.
- Die Teilnehmer*innen lernen, wie sie mit Entscheidungsträgern verhandeln können.
- Die Teilnehmer*innen lernen, wie man die Methode des "systemischen Konsenses" anwendet, um eine demokratische Gruppenentscheidung zu treffen.
BEVOR SIE BEGINNEN
Diese Übung ist keine Simulation, sondern soll den Jugendlichen die Möglichkeit geben, die demokratische Beteiligung in ihrer Schule oder Freizeiteinrichtung wirklich zu erleben. Daher ist es notwendig, zunächst die Leitung der Schule oder Freizeiteinrichtung "mit ins Boot" zu holen. Machen Sie sie auf die Schritte und Konsequenzen der Übung aufmerksam. Lassen Sie sie auch wissen, dass sie bei dieser Übung eine wichtige Rolle spielen werden. Es wäre ein großer Nachteil, wenn die Jugendlichen den Eindruck bekämen, dass sie nur Demokratie "spielen" sollen.
A. Einführung (20 Min.)
Führen Sie in das Thema der demokratischen Innovationen im Allgemeinen und des Bürger*innenrats im Besonderen ein (siehe Einleitung dieses Toolkits). Geben Sie einen Überblick über die Ziele und Schritte der Aktivität und fügen Sie hinzu, warum Sie sich persönlich dafür entschieden haben, sie durchzuführen.
B. Systemische Konsensbildung (1 Stunde)
Teilen Sie [Anhang 1] aus. Führen Sie Ihre Schüler*innen durch den Prozess der systemischen Konsensbildung, indem Sie jeden Schritt erklären.
Systemische Konsensbildung
Einleitung
Das systemische Konsensieren ist ein Entscheidungsfindungsprozess. Er beruht auf dem Konsensprinzip: Ihre Klasse (Gruppe) kann sich für die Frage entscheiden, mit der alle am meisten einverstanden sind. Bei der systemischen Konsensbildung fragen Sie die Gruppenmitglieder jedoch nicht nach ihrer Zustimmung zu den einzelnen Vorschlägen, sondern konzentrieren sich auf den Grad des Widerstands. Sie entscheiden sich für das Thema, das bei allen den geringsten Widerstand hervorruft. Auf diese Weise kommen Sie zu einem Ergebnis, das von allen Teilnehmer*innen getragen werden kann. (Dies ist wichtig, damit alle bereit und in der Lage sind, sich an der späteren Unterschriftensammlung zu beteiligen).
1. Ein Anliegen ausarbeiten (15 - 30 Min.)
Im ersten Schritt entwickeln Sie in Kleingruppen Anliegen, die Sie der Schulleitung vortragen möchten. Nutzen Sie die Methode des Brainstormings, um Ideen zu sammeln. Was sollte an eurer Schule dringend geändert werden? Was könnte Ihre Schule (Freizeiteinrichtung) besser machen? Achten Sie darauf, dass jede*r in der Gruppe gleich viel Raum erhält, um seine Ideen und Wünsche zu äußern. Alle Vorschläge sind willkommen! Sie werden in dieser Phase nicht kommentiert, diskutiert oder bewertet. Nach 15 Minuten einigen Sie sich bitte in den Kleingruppen auf ein Anliegen, das Sie der Klasse (Gruppe) zur Abstimmung vorlegen möchten. Benutzen Sie Anhang 1, um Ihr Anliegen zu formulieren und erstellen Sie ein Flipchartblatt, um Ihre Idee zu visualisieren. Zeigen Sie bitte auf, wie Sie selbst dazu beitragen können, diese Idee in die Tat umzusetzen (Freiwilligenarbeit).
2. Diskussion (15 Min.)
In dieser Phase werden die Anliegen auf den Flipchart-Papieren vorgestellt, diskutiert und kommentiert.
3. Entscheidungsphase (15 Min.)
Nun treffen Sie eine Entscheidung. Sie bewerten die Vorschläge mit "Widerstandspunkten". Wenn Sie keinen Widerstand gegen einen Vorschlag verspüren, d. h., wenn Sie mit dem Vorschlag völlig einverstanden sind, dann geben Sie 0 Punkte. Wenn Sie einen Vorschlag überhaupt nicht akzeptabel finden und viel Widerstand spüren, dann vergeben Sie die höchste Punktzahl: 10 Punkte. Alle Anliegen können auf den Flipchart-Papieren bewertet werden. Gehen Sie zu jedem Flipchart-Papier und vergeben Sie Ihre gewünschte Punktzahl (zwischen 0 und 10 Punkten). Fügen Sie auch ein Flipchart-Papier hinzu, auf dem steht: "Kein Anliegen". Denn systemische Beratung muss immer auch die Option beinhalten, nichts zu verändern (die sogenannte passive Lösung)
4. Bewertung (15 Min.)
Wenn alle ihre Bewertung für jeden Vorschlag abgegeben haben, werden die Widerstandspunkte für jeden der Vorschläge zusammengezählt: Der Vorschlag mit den wenigsten Punkten hat den geringsten Widerstand in der Gruppe hervorgerufen. Das bedeutet, dass Sie das Thema gefunden haben, das am ehesten von allen Gruppenmitgliedern unterstützt werden kann!
Bitten Sie diejenigen mit einer hohen Punktzahl, die Gründe für ihre Zurückhaltung zu erläutern. Dies wird Ihnen helfen, die Bedürfnisse besser zu verstehen und möglicherweise die Umsetzung der Entscheidung für diejenigen, die große Schwierigkeiten haben, anzupassen.
5. Video (45 Min.)
Zeigen Sie das Video nach einer kurzen Einführung in den Bürger*innenrats. Da die Teilnehmer*innen selbst ein Anliegen formuliert haben, werden sie sich wahrscheinlich leicht in die Lage der Menschen versetzen können, die ihre Anliegen im Video präsentieren.
Beginnen Sie eine Diskussion über den Bürger*innenrat und geben Sie die Möglichkeit, Verständnisfragen zu stellen.
Fragen:
- Was haltet Ihr von dieser demokratischen Innovation? Seht Ihr Stärken und Schwächen in diesem Prozess?
- Wie nützlich erscheint Euch der Bürger*innenrat?
- Glaubt Ihr, dass 1000 Unterschriften leicht genug zu sammeln sind?
- Was haltet Ihr von dem Verfahren, mit dem die Personen ausgewählt werden?
- Haltet Ihr das Mindestalter von 15 Jahren für gerechtfertigt?
- Wie hat Euch die im Video gezeigte spezielle Methode der Dynamic Facilitation gefallen?
- Sollten alle Städte und Gemeinden verpflichtet werden, einen Bürger*innenrat abzuhalten? Was sind die Vor- und Nachteile?
6. Verhandlung mit der Leitung der Schule / des Freizeitzentrums (ca. 1 Stunde)
Die Schüler*innen bereiten sich darauf vor, das von ihnen gewählte Thema im Rahmen einer systemischen Konsensbildung bei einem Treffen mit der Schulleitung zu präsentieren. Sie tragen die Argumente zusammen und überlegen, wie viele Unterschriften ihrer Meinung nach nötig wären, um das Thema voranzubringen. Sie überlegen auch, ob und welche Schritte Sie selbst unternehmen wollen, um das Anliegen voranzubringen. Eine demokratisch gewählte Schüler*innendelegation stellt das Anliegen der Schulleitung vor und verhandelt, wie viele Unterschriften die Schüler*innen in welchem Zeitraum sammeln müssen, damit sich die Schulleitung mit dem Thema befassen "muss".
7. Unterschriftensammlung (1 Tag bis 1 Woche)
Die Schüler*innen erstellen ein Informationsblatt für ihr Anliegen und Unterschriftenlisten für die Unterschriftensammlung [Anhang 2]. Sie sammeln die Unterschriften in der Schule (in der Pause und nach dem Unterricht) oder in ihrer Freizeiteinrichtung. Sie können auch mit der Schulleitung vereinbaren, in die Klassen zu gehen, um das Anliegen kurz vorzustellen).
8. Unterschriftenübergabe (30 - 60 Min.)
Helfen Sie Ihren Schüler*innen, ein Treffen mit Entscheidungsträger*innen zu arrangieren. Die Schü- ler*innen geben die Unterschriftenlisten ab und besprechen die nächsten Schritte mit der Leitung der Einrichtung.
9. Reflexion (1- 1,5 Stunden)
Treffen Sie sich mit den Schüler*innen, nachdem der gesamte Prozess abgeschlossen ist.
Stellen Sie die folgenden Fragen, ohne konkrete Antworten zu erwarten, aber seien Sie an den Erfahrungen der jungen Menschen interessiert.
- Formulierung eines Anliegens: Wie war es, ein Anliegen zu formulieren? Was hat euch gefallen? Was war schwierig?
- Einigung auf ein Anliegen mit der Methode "Systemische Konsensbildung": Was haltet Ihr von dieser Methode? War sie hilfreich, um sich auf ein Anliegen zu einigen?
- Verhandlung mit der Schulleitung: Wie ist die Verhandlung mit der Schulleitung verlaufen? Was hat gut und was hat nicht so gut funktioniert?
- Habt Ihr genügend Unterschriften erhalten? Wenn ja, seid Ihr mit der Art und Weise, wie euer Anliegen behandelt wurde, zufrieden? Wenn nicht, was könnte der Grund dafür gewesen sein? War das Thema für eine große Anzahl eurer Mitschüler*innen nicht wichtig genug? Was könnte beim nächsten Mal anders gemacht werden? Hat sich die Schulleitung dennoch das Thema aufgegriffen?